Vincenzo Bellini (1801-1835):

Il pirata

deutsch Der Pirat / englisch The Pirate

Allgemeine Angaben zur Oper

Anlass: Auftragsarbeit für die Mailänder Scala
Entstehungszeit: 1827
Uraufführung: 27. Oktober 1827 in Mailand (Teatro alla Scala)
Besetzung: Soli, Chor und Orchester
Spieldauer: ca. 140 Minuten
Erstdruck: Mailand: Ricordi, 1828 ?
Verlag: Mailand: Ricordi, 1984
Bemerkung: Mit seiner dritten Oper, die an der Scala mit großem Beifall aufgenommen wurde, konnte sich der Sizilianer die internationale Anerkennung erzwingen. Sein Librettist Felice Romani folgte dem Geschmack seiner Zeit und griff in die Kiste der Schauerromantik. Er schuf anspruchsvolle Verse, die es dem Komponisten erlaubten, Chöre und Solisten mit überschwänglichen Melodien zu beschenken. Kämpfe zwischen dem Herzog von Anjou und dem glücklosen Stauffer-König Manfred um Thronrechte in Sizilien bilden den historischen Hintergrund, nehmen aber auf den unmittelbaren Handlungsablauf der Oper keinen Einfluss.

Zur Oper

Art: Oper in zwei Akten
Libretto: Felice Romani nach dem Roman “Bertram or the Castle of St. Aldobrand” von Charles Robert Maturin
Sprache: italienisch
Ort: Sizilien
Zeit: 1266

Personen der Handlung

Ernesto: Herzog von Caldora, in Rivalität zu Gualtiero (Bariton)
Imogene: seine Frau, vormals Gualtiero in Liebe verbunden (Sopran)
Gualtiero: Graf von Montaldo, schicksalsbestimmt der Anführer von Piraten (Tenor)
Itulbo: Gefährte Gualtieros (Tenor)
Goffredo: Eremit, Gualtieros ehemaliger Hauslehrer (Bass)
Adele: Imogenes Zofe (Sopran)
Weitere: Fischer, Frauen, Piraten, Ritter und Damen

Handlung

1. Akt:

ERSTE SZENE

Die Meeresküste bei Caldora wird von einem gewaltigen Sturm gepeitscht. Eine Caravelle ist in Seenot geraten und droht zu kentern. Die Männer versuchen, schwimmend das Ufer zu erreichen. Fischer stehen am Strand und beobachten ihre Bemühungen. Ein Frauenchor unter der Wortführung eines Eremiten, der aus dem naheliegenden Kloster herbeigeeilt ist, bittet den Himmel um den Schutz der Seeleute.

Der Rettung der Schiffbrüchigen ist Erfolg beschieden. Zu seiner großen Überraschung erkennt der Eremit in dem Anführer den Grafen Gualtiero wieder, dessen Erzieher er einst war. Politisches Missgeschick ließ ihn zum Piraten werden, um seinen Thronräubern die Zähne zu zeigen. Funktioniert hat es nicht, denn seine Flotte wurde in der Straße von Messina aufgerieben. Die geliebte Imogene hat man ihm entrissen. Sie ist jetzt die Gemahlin Ernestos, des Herzogs von Caldora. Die Hochstehende gibt sich leutselig und lässt es sich nicht nehmen, gemäß altem Brauch den Schiffsbrüchigen in der Burg Gastfreundschaft anzubieten. Vorausschauend rät der Eremit dem glücklosen Gualtiero, sich nicht bekannt zu machen und baldmöglichst die Gegend wieder zu verlassen. Folglich gibt sich sein Gefährte Itulbo als Kapitän des gestrandeten Schiffes aus und erzählt der fragenden Herzogin, dass sein Handelsschiff von Messina nach Palermo unterwegs gewesen sei. Ist ihm unterwegs ein Piratenschiff begegnet? Itulbo erwidert, dass die Piratenflotte geschlagen oder in alle Winde zerstreut wurde. Der Anführer sei entweder tot oder in Gefangenschaft geraten.

Wie furchtbar! Imogene erzählt ihrer Zofe von dem schrecklichen Traum, der sie in der letzten Nacht quälte. Den geliebten Gualtiero sah sie verwundet und erschöpft an einem verlassenen öden Ufer, ringsum lagen Tote massenweise quer übereinander oder sie schwammen in ihrem Blut. Die Schreie der Verstümmelten tönten zum Himmel, aber niemand antwortete. Die See war ruhig und die Natur taub gegen ihren Schmerz.

Der Chor vernimmt die Klagen der Herzogin und mischt sich ein. Er stellt die Diagnose, dass heimliche Sorge die Unglückliche plagt. Adele rät ihrer Herrin, den Schrecken des Traumes zu verjagen und nicht mehr daran zu denken. Dabei ist die Verstörte mit ihrer Traumerzählung noch gar nicht fertig. Plötzlich stand ingrimmig und voller Wut ihr Gemahl vor ihr. Er beschuldigte sie, die Ursache seines Todes zu sein, ergriff die sich Widersetzende und zog sie mit sich fort. Weit fortgetragen, folgte ihr der Schatten des toten Geliebten mit blassem Gesicht und ausdrucksloser Miene beharrlich nach. Imogene erahnt, was der Traum zu bedeuten hat und kann sich von der Erscheinung nicht lösen. Die treue Adele bezeugt ihr Mitgefühl und versucht, ihre Herrin zu beruhigen. Hohle Schatten seien es, die sie ängstigen. Schlimme Vorahnung erfüllt auch das Herz des mitfühlenden Itulbo. Erneut stellt der Chor fest, dass unablässige Furcht das Herz der Herzogin quält. Gualtiero hält sich hinter den Umstehenden in Deckung, hat aber die Traumerzählung mit angehört. Für einen kurzen Moment gewahrt die Herzogin sein Gesicht und stößt einen Schrei aus denn sie glaubt, dass ein Phantom sie narrt. Adele lenkt sie ab und wirkt beschwichtigend auf sie ein.

ZWEITE SZENE

Die Gestrandeten lassen es sich im Burghof wohl sein, zechen und singen Seemannslieder. Die Herzogin nähert sich, und Itulbo mahnt seine Leute zur allgemeinen Behutsamkeit. Ist erst ihre Identität verraten, droht Gefangenschaft. Am besten wäre es, den Becher schnell auszutrinken und wegzugehen. In Gedanken versunken, abgesondert von den Gefährten, glaubt Adele den mutmaßlich anwesenden Gualtiero entdeckt zu haben und meldet es ihrer Herrin. Gesagt hat er nichts, seine Augen haben sie fixiert, und ohne sein Schwert ist er ihr dann gefolgt. Adele soll nun gehen und stumm beobachten, was um sie herum passiert. Der Finsterling nähert sich Imogene, und beide spielen zunächst Verstecken, um die Stimmung des anderen zu erkunden. Zögernd ergreift die Burgherrin das Wort. Die Betrübnis inmitten der Freude seiner Gefährten sei für sie der Beweis, dass Fortuna grausam zu ihm gewesen sei. Er soll ihr erzählen, ob die See ihm alles Gut geraubt hat. Kann sie mit Münzen aushelfen? Nein, die Welt hat keinen Schatz mehr für ihn. Hat er vielleicht in den Wellen den geliebten Freund verloren? Imogene bedauert, den Fremden nicht trösten zu können, denn sie selbst lebt ohne Trost. Sein Leid sei furchtbar, bemerkt der andere, der Himmel habe ihm alles geraubt. Aber gewiss kann er doch Trost im Hort seiner Familie finden. Nein, er lebt ganz allein auf dieser Erde. Ein grausames Schicksal hat ihm die Familie und das Vaterland geraubt. Je länger Imogene ihm lauscht, um so mehr Furcht beschleicht ihr Herz. Wenn sie ihm nicht helfen kann, mag er sich in Gottes Namen verabschieden. Sollte eines Tages der Kummer ihn verlassen und seine Füße ihn zum Altar tragen, möge er für sie beten, weil sie selbst weitaus unglücklicher sei als er. Sie möge ihn anhören, noch ein Weilchen verweilen und es nicht über das Herz bringen, ihn einfach fortzujagen. Wer ist er? Was wünscht er? Oh Imogene! Eine innere Stimme habe zu ihm gesprochen, dass er eines Tages ihre Schuld vergessen wird, erklingt sein Vorwurf. Tödlich erschrocken ob der unvermuteten Ansprache, bittet ihn Imogene zu fliehen, denn er befinde sich in der Burg ihres Gatten, seines Todfeindes. Der Tod lauert auf ihn und kann ihn stündlich ereilen! Bevor er geht, möge sie doch einen nagenden Zweifel in ihm zerstreuen. Was ist die Ursache, weshalb sie hier an diesem Ort ist? Warum? Ein verhängnisvoller Knoten bindet sie an den Gemahl. Das sei nicht die Wahrheit, sie wurde ihm niemals weggenommen! Das Leid sei auf ihrer Seite. Er sieht, dass sie weint. Er soll ihr zuhören.

Ihr gebrechlicher alter Vater starb in einem üblen Verlies, nachdem sie sich zunächst beharrlich geweigert hatte, den Eroberer zu heiraten. Gualtiero entsetzt sich über das schreckliche Geständnis. Für ihren Vater hatte sie Mitleid, aber nicht für ihn! Und er, betrogen und blind, lebt, lebte für sie allein. Er erlitt tausend Qualen, ausgesetzt den Wogen des Meeres und des Windes, nur um sie in seiner Vorstellung in den Armen seines Verfolgers zu sehen. Die Verräterin hat ihn zum Gipfelpunkt des Schreckens geführt. Er hatte nie um einen betagten Vater zu zittern gehabt, wirft sie ein. Der alte Mann hatte nichts als seine Tränen, um sie und sich selbst vor der Feinde Stahl zu schützen. Der Ankläger war während der Stunden seines Leidens nicht zugegen, er hat ihn nicht gesehen im Elend und voller Angst. Inzwischen ist viel an Zeit vergangen. Er möge sie jetzt verlassen. Unglück wird es geben, wenn er ihr Flehen überhört. Nun, nachdem sie ihren Verrat eingestanden hat, kann nichts mehr ihn zum Zittern bringen.

Die Hofdamen betreten das Gemach und bringen Imogene ihren kleinen Sohn. Gualtiero - völlig irritiert - ergreift den Kleinen, schaut entgeistert in sein Gesicht und findet darin die Züge Ernestos. Im Übermaß der Emotion greift seine Hand instinktiv zum Dolch, um zuzustechen. Doch Imogenes entsetzter Schrei bringt ihn auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Der Rasende soll Mitleid haben, es sei ihr Sohn. Sie soll ihn fest an ihre Brust drücken und gut behüten. Immer möge er sie erinnern an ihre schändliche Verbindung. Als ewiger Vorwurf ihrer verratenen Liebe soll er unter ihren Augen weilen.

DRITTE SZENE

Im unpassenden Augenblick kehrt der Herzog wider Erwarten im Triumph von der Schlacht zurück. Die Burg ist festlich beleuchtet, und die Untertanen begrüßen ihren Ritter und feiern seinen Sieg. „M'a braccia o donna.” Was sieht er? Müssen seine tapferen Leute eine niedergedrückte und desinteressierte Herzogin zur Kenntnis nehmen? Nimmt sie so seinen Triumph entgegen? Erfreut stelle sie fest, dass er unversehrt zurückgekehrt ist - zu mehr reicht es leider nicht und er kennt die Ursachen. Ihm sei klar, dass sie im Moment schlechte Laune habe, aber er denkt, dass eines Tages sich alles zum Guten wenden wird. Er hofft, sie sobald nicht wieder verlassen zu müssen. Der Verräter Gualtiero wurde vernichtend geschlagen, und er glaubt nicht, dass er sich noch einmal erheben und ihn zum Kampf herausfordern wird. Und was wird sein, wenn er plötzlich an diesem Ort auftaucht? Sie soll ihm erzählen, welches Mitleid sie bewegt hat, die gestrandeten Leute in die Burg zu lassen. Hat sie sich eigentlich Gedanken gemacht, wer die Leute sein könnten? Sie habe gedacht, zunächst den Opfern zu helfen und sie hinterher zu befragen. Der Anführer und der Eremit, der das sinkende Schiff zuerst ausgemacht hat, sollen vor ihn gebracht werden, ordnet der Burgherr an. Itulbo meldet sich als Kapitän des Schiffes und bittet um Schutz für sich und seine Leute in dem gastfreundlichen Land. Der Herzog fordert ihn auf, seine Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten. An seinem Akzent, seiner Kleidung und seinen Waffen erkennt er, dass er nicht von dieser Küste stammt. Das Licht der Welt habe er in Ligurien erblickt, und er geht davon aus, dass jeder Fremde in diesem Land willkommen sei. Nicht unbedingt, denn Ligurien steht auf der Seite des Verräters. Viele Schiffe besitzt das Land, die alle auf Seeräuberei aus sind, und der Herzog neigt dazu, in allen Männern, die von dieser Küste kommen, Piraten zu sehen. Solange er Namen und Herkunft nicht besser zu formulieren weiß, werden er und seine Leute lernen müssen, die Gefängnisse von Caldora zu respektieren. Der Herzog praktiziert ein raues Gesetz, aber Itulbo hofft, dass die Dame der Burg erfolgreich für die Gestrandeten vermitteln wird. Die Herzogin legt für die Unglücklichen Fürbitte ein und Ernesto befindet, dass die Leute erst bei Tagesanbruch das Land zu verlassen haben. Gualtiero, der sich unter den Anwenden befindet, kann nur mühsam seine Zunge zu hüten.

DAS FINALE DES ERSTEN AKTES

gestaltet Bellini opulent. Der Komponist hat ein Sextett komponiert, bei dem alle aufgefordert sind, sich ihrer Gemütsbewegungen zu entledigen. Wer viel zu erzählen hat, bekommt den Vortritt, während die anderen sich im Hintergrund halten sollen.

Im seinen Empfindungen tritt Gualtiero vor und startet einen Erpressungsversuch. Bevor er die Burg verlässt, möchte er Ernesto einen kurzen Moment allein sprechen; an jedem abgelegenen Platz, den er aussucht, wollen sie sich treffen. Weigert er sich, so soll er zittern – für sich selbst und für seinen kleinen Sohn. Noch in dieser Nacht soll das Zusammentreffen stattfinden. Ernesto denkt, dass es in jedem Fall richtig ist, auf der Hut zu sein. Unauffällig sollen seine Leute das Gestade beobachten, und sobald ein Schiff anlegt, werden die Mannen mit ihrer Waffe bereit stehen. Ihr letztes Lebewohl soll der Geliebte akzeptieren, fleht Imogene, damit er der mörderischen Gefahr entgehe, der er in der Burg ausgesetzt ist und der unerträgliche Druck von ihrer Seele endlich weiche. Leid ist auf Adele und ihre Herrin zugekommen. Der leichtfertige Mann, der es verursachte, ignoriert die schreckliche Gefahr, eine Zerreißprobe steht bevor. Ihre Furcht will die Teure vor den anderen verstecken. Itulbo ahnt bevorstehendes Unheil und der Eremit ebenfalls. Es entspräche seiner Mentalität zu beten, aber er ist vor der anrückenden Gefahr wie gelähmt.

Gualtiero will nicht länger untätig sein und lässt die Grausame wissen, dass jetzt mit der Rache begonnen wird. Sie hat keine Vorstellung, was er geplant hat und reagiert mit einem unbeholfen gehauchten „Oh!“. Ernesto möchte erfahren, was los ist, und der Opernchor will ebenfalls informiert sein. Inzwischen ist Imogene bewusstlos geworden und wird von ihrer Zofe aufgefangen. Die Hofdamen sind sich nicht schlüssig, ob sie ihre Herrin der kühlen Nachtluft aussetzen oder die Weisung des Ehemannes abwarten sollen. Itulbo und auch der Eremit mobilisieren ihre Körperkräfte, um Gualtiero beiseite zu schieben. Der Bewegte lamentiert, dass sein Hass versuche, den Burgherrn zu verschlingen. Ernest ist ratlos, weil er sich nicht erklären kann, woher die vielen urplötzlich austretenden Gemütsbewegungen kommen. Es ist wirklich schlimm um Imogene bestellt, denn sie kündet den Zuschauenden, dass sie am liebsten ihr unsägliches Leid verstecken möchte: Ihr Körper zittert, sie ist entflammt, sie friert und das Herz schwillt ihr in der Brust. Adele schaltet sich geistesgegenwärtig ein und fleht, dass die seelisch Überforderte um Himmelswillen ihren Schmerz geheim halten soll.

Gualtiero vertritt die irrige Ansicht, dass keine Notwendigkeit bestehe, sich länger zurückzuhalten, seine Hände möchten jetzt schlachten. Ernesto diagnostiziert, es sei nicht Schmerz, es sei nicht Leiden, sondern der helle Irrsinn, der den Tobenden befallen habe. Adele bittet Ernesto, die beunruhigenden Worte seiner Gattin zu verzeihen – alles sei nur halb so wild – und mahnt die Herrin erneut zur eigenen Sicherheit, ihren Gram zu verstecken. Gualtiero ist nicht ruhig zu stellen. Seinen brennenden Durst nach Rache will er mit dem Schwert auslöschen. Imogenes Herz ist im Begriff zu bersten, und Ernesto kann das Delirium nicht vergessen. In der Tat wäre es an der Zeit, nach einem Arzt zu rufen, auch wenn Bellini für einen Medico keine Arie komponiert hat. Itulbo und der Eremit machen Gualtiero wegen seiner Entgleisung Vorhaltungen, denn sie fürchten um ihr Leben. Der Verwegene soll auf Donna Imogene verzichten und mitkommen. Unter dem seelischen Druck, den sie auszuhalten hat, wird sie ohnehin sterben, so dass alle Hoffnungen auf Liebe sich erübrigen.

2. Akt:

VIERTE SZENE

Der Opernchor erkundigt sich, was es an Neuigkeiten gibt und ob die edle Dulderin endlich mit Weinen aufgehört habe. Adeles Auskunft ist positiv, und sie will nun allein bei ihr wachen. Möge der Himmel ihren kurzen ruhigen Schlaf noch ein bisschen hinauszögern. Eine Hofdame berichtet, dass Gualtiero sich im Hause versteckt hält und geschworen habe, es nicht eher zu verlassen, bevor er Imogene nicht noch einmal gesprochen habe. Dieser Schritt ist fatal, Imogene weiß es, aber um noch mehr Unheil zu verhüten, muss sie auf sein Ersuchen eingehen. Sie hören ein Geräusch, es ist der Herzog, der ihr nun den Weg versperrt. Er hat festgestellt, das sie ihn kontinuierlich meidet. Aber es ist die Zeit gekommen, sie an seiner Seite zu wissen und ihrer Rolle als seine Gemahlin gerecht zu werden. Es sei nicht korrekt, eine falsche Krankheit für ihren Kummer anzuführen. Nur ihr Herz sei krank, es ist einzig und allein das Herz. Oh ja, es ist gestorben vor Angst. Er weiß, dass ihr Unwohlsein eine weit zurückliegende, tief sitzende Ursache hat, eine unerschöpfliche Quelle, aus der sie schöpft, ihm ihre Ablehnung zu demonstrieren. Er hat Recht, denn es ist ihre tote Familie, die sie von ihm trennt. Den verhassten Eheknoten und die verhinderte Liebe zu Gualtiero solle sie noch hinzuaddieren, unterbricht sie Ernesto. Oh Himmel, an was erinnert er sie da? Er soll sich damit zufrieden geben, dass sie seine Frau geworden und die Mutter seines Sohnes ist, alles andere möge er ihr als Geheimnis lassen. Sie hat in seinem Herzen eine Wunde geöffnet, die mehr blutet als ihre eigene. Eine bösartige Mutter und ein unmoralisches Weib verbirgt eine unerlaubte Liebe, schätzt Ernesto die Situation ein. Als ihr Vater sie ihm zum Bunde gegeben hat, war diese von ihm erwähnte Liebe nicht geheim. Er wünschte ihre Hand, sorgte sich aber nicht um ihr Herz. Sie soll frei sagen, ob sie Gualtiero noch liebt, er höre ihr zu. Es ist wahr, dass sie ihn noch liebt, aber wie einen Mann, der tot und begraben ist. Es ist eine hoffnungslose Liebe, die nicht den Wunsch nach Rechtfertigung verspürt. Er fühlt, dass er alle Hoffnung auf milde Zuneigung für immer aufgeben kann.

Ein Bote bringt einen Brief und Ernesto öffnet ihn. Gualtiero hat ihn abgefasst und er schreibt, dass er sich in seiner Burg versteckt halte. Ernesto soll es nicht glauben, wendet Imogene ein, doch in dem Brief steht, dass er bereits Kontakt aufgenommen hat. Die Verräterin soll sagen, wo er sich befindet. Er wird ihn schon ausfindig machen. Die fatale Begegnung soll Ernesto vermeiden, der gezückte Dolch schwebe über seinem Kopf. Dürstend nach Blut wird er über sie herfallen, steht in dem Brief, und den Sohn wird er ins Grab befördern. Gott wird ihn beschützen, keine Barriere trennt ihn mehr von seinem Rivalen. Imogene mahnt erneut, die verhängnisvolle Begegnung nicht zu suchen.

FÜNFTE SZENE

Itulbo versucht, Gualtiero von seinem Vorhaben abzubringen. Der Gefährte soll ihn in Ruhe lassen und seinen Weg gehen. Keine menschliche Macht kann den von Liebe Besessenen von seinem Vorhaben abbringen. Sich selbst und seine Männer wird er noch zu Tode bringen, wenn er die Abreise verzögert und den Herzog ständig herausfordert. Gualtiero fürchtet ihn nicht und wird bleiben. Seine Rache wird fürchterlich sein, wenn Imogene sein letztes Angebot nicht erhört. Itulbo soll nicht streiten, sondern Sorge tragen, dass seine Leute bei seinem Signal zum Angriff bereitstehen. Notfalls wird das Leben so teuer verkauft wie möglich.

Gualtiero hört den zögernden Fußtritt von Imogene, die er zu einer letzten Aussprache herbestellt hat. Aufgeregt bittet sie ihn, sich mit dem, was er ihr noch zu sagen hat, kurz zu fassen. Seine Anwesenheit in der Burg sei bereits entdeckt worden. Was will er? Es trifft sich gut, dass Ernesto ihn sucht, sein Schwert ist bereit zum Zweikampf. Er wird es schwingen, es sei denn, sie folgt ihm. Zwei seiner vermissten Schiffe sind angekommen. Es gibt die Möglichkeit, zu kämpfen oder sich zu entfernen. Der schreckliche Ernesto liebt sie, er soll die Qual erleiden, sie zu verlieren. Imogene weigert sich und sagt ihm, dass er verschwinden soll. Sein Schicksal wird sich hier entscheiden: Rache oder Tod. Er weiß nur das eine: Ohne sie wird er sterben. Imogene weint, und Gualtiero fühlt Mitleid mit ihr. Trost wird sich finden, wenn sie erst auf See sind. Er weiß einen stillen Hafen, dort wird sie Ruhe finden. Schweigen soll der Liebste, bittere Reue würde ihr über die Wogen folgen. Er soll nichts mehr sagen, denn die wilde See hat keine Küste, an welcher sie sich verstecken könnten. Er soll leben und versuchen, zu vergessen und zu vergeben, es sei der einzige Ausweg. Eine letzte Umarmung und dann soll er gehen, die Zeit entflieht. Gualtiero gibt sich geschlagen, dem furchtbaren Schicksal, welches ihm sein Glück raubt, wird er nachgeben. Aber es kann ihn nicht zum Weiterleben verurteilen. Einem Herzen, welches von Ehre geführt wird, ist alles möglich. Tugend wird ihn größer machen, und dann steht er über dem Schicksal. Rhetorisch eröffnet ihm Imogene einen Ausweg aus seinem Dilemma.

„Cielo!“ Der wutentbrannte Gatte ist zur Stelle und alle positiven Ansätze verflüchtigen sich im Nu. Welche Freude, der Rivale ist in seiner Macht! Seine Rache schwebt über dem verfluchten Paar. Zehn Jahre vergeblicher Suche haben den Durst nach Blut nicht dezimiert. Endlich bekommt Gualtiero den Räuber seiner Ehre und seiner Liebsten vor die Klinge. Beide Männer lassen die Zunge heraushängen, denn sie wollen Blut lecken – nicht das eigene, sondern das des anderen. Imogene macht einen Vorschlag und fleht die beiden Männer an, sie mögen sich schonen und nur die Schuldige töten. Allerdings müsste die Sonne vom Himmel verschwinden, weil das Tageslicht den Horror nicht ertragen kann. Die Sonne bleibt und Adele kommt, um mit kühlem Kopf der Herrin Ratschläge zu geben. „Sventurata fa core!” Die Unglückliche soll sich ein Herz fassen und in ihre Gemächer gehen. Sie empfiehlt, den Himmel anflehen, dass er von den Mauern schweres Unglück fernhalten möge. Nahezu taub in ihrem Schmerz hört Imogene nur noch das Aufeinanderprallen der Klingen und den Aufschrei der Kampfhähne. Den Hofdamen gelingt es mit vereinten Kräften, die Bewusstlose aus der Gefahrenzone zu zerren.

SECHSTE SZENE

Die Damigelle beklagen das bittere Los, welches das Land getroffen hat. Der Herzog lebt nicht mehr, denn er wurde durch die Hand eines Verräters erstochen. Prunkvoll aufgebahrt in voller Rüstung, das Schwert an seiner Seite, spenden die Kavaliere einen letzten Gruß. Wie sich das gehört und man das nicht anders kennt, schwören sie Vergeltung für böse Untat.

Welche Verwegenheit! Adele hat ihn zu erst gesehen. Der Verräter zeigt keine Furcht, vor den Versammelten zu erscheinen, doch sein Gesicht ist sorgenvoll und düster. Niemand soll sich ihm nähern oder versuchen, ihn zu entwaffnen. Es soll sich aber auch niemand fürchten, denn er stellte sich freiwillig ihrem Zorn. Sein Schwert legt er nieder. Nun können sie Rache nehmen. Er erwartet den Tod ohne zu Zittern. Gualtieros Auftritt wird als unerhörte Arroganz gewertet. Den Tod verdient er. Vor dem Tribunal wird es ein ordentliches Verfahren geben, formell wird man ihn anhören und erst dann verurteilen.

Adele soll nach ihrer unglücklichen Herrin schauen, der Gualtiero Schlimmes angetan hat. Er sieht sein Unrecht ein und hofft, eines Tages ihre Vergebung zu erlangen. An seinen Grabstein soll sie kommen und weinen, damit er seinen Frieden findet. Dem Konzil erklärt er, dass eine Anklage nicht erforderlich sei, denn er verdamme sich selbst und denke nur an seinen Tod. Das Gericht lobt seinen Mut, dass er sich seiner Verantwortung unaufgefordert stellt. Gualtiero gibt zu, skrupellos und stolz zu sein. Das Schicksal war ihm nicht wohl gesonnen und hielt massenhaft Verdruss und anhaltende Torturen für ihn bereit. Um seine Liebe wurde er grausam betrogen. Er hofft aber, dass in der Erinnerung an ihn nicht nur Unehre haften bleibt. Einen netten Spruch auf seinem Grabstein würde er ganz löblich finden. Adele glaubt, dass der freie Platz für das Auflisten seiner Missetaten gerade ausreicht. Die Anwesenden räumen ein, dass ein fatales Schicksal ein großzügiges Herz degeneriert hat, ihre Anteilnahme aber der gramgebeugten Imogene gilt. Sie kommt gerade und hält ihr Söhnchen an der Hand. Der Kleine rennt schutzsuchend sofort zu Adele, die ihn in ihre Arme nimmt.

Die düsteren Schatten kommenden Wahnsinns haben bereits nach der Witwe gegriffen. Schwere Wolken drücken sie nieder. Sie weiß nicht, ob es Tag oder Nacht ist, ob sie sich in ihren Gemächern befinde oder im Grab. In verzerrter Form hat sich das Geschehen im Traum wiederholt. Sie denkt, dass Ernesto noch lebt und nach seinem Sohn ruft, den sie vor seinen Mördern gerettet hat. Er soll den Kleinen umarmen und ihr vergeben, bevor er sterbe. Mit dem Glanz der Liebe und mit dem Lächeln der Unschuld soll der Kleine für die Mutter Fürsprache einlegen.

Sie hört das Trompetensignal aus der Halle, in dem das Gericht tagt. Der Operchor informiert, dass der Täter schuldig befunden und zum Tode verurteilt wurde. An Händen gebunden führen die Büttel ihn zum Gerüst. Imogene ist noch nicht so weit zu glauben, dass der Galgen für Gualtiero errichtet wurde. Von Schmerz überwältigt bricht Imogene unter dem seelischen Druck tot zusammen.


Letzte Änderung am 11.7.2007
Veröffentlichung mit Zustimmung von musirony