Sebastiano Moratelli (1640-1706):

La Fareta Smarrita

deutsch Der verlorene Köcher / englisch The Lost Quiver

Allgemeine Angaben zur Oper

Anlass: Geburtstag von Anna Maria Luisa de Medici
Entstehungszeit: um 1690
Uraufführung: um 1690 in Düsseldorf
Besetzung: Soli und Orchester
Bemerkung: Die Opernserenade ist eine in Volumen und Gehalt reduzierte Form der Oper. Sie erfolgte fast immer dem Auftrag eines Fürsten, um zu einem bestimmten Ereignis einen festlichen Rahmen zu liefern. Im vorliegenden Fall sollte Anna Maria Luisa de Medici - einer Tochter Cosimos III. - der Gattin des Fürsten Johann Wilhelm von der Pfalz am Hof zu Düsseldorf zum Geburtstag gehuldigt werden. Ein bisschen Aufwand konnte nicht schaden, da die reiche Verwandtschaft Jan Willems Kriegskasse aufbessern sollte.

Die musikalische Hinterlassenschaft des in Vicenca geborenen Komponisten galt bis vor kurzem als verschollen. Das Auffinden der Partitur zu „La Faretra Smarrita“ in der Bibliothek des Grafen Toerring-Jettenbach glich einer Sensation.

Zur Oper

Art: Opernserenade in einem Aufzug
Libretto: vermutlich Giorgio Maria Rapparini
Sprache: italienisch

Personen der Handlung

Mercurio: Merkur, der Bote des Zeus und der Gott der Kaufleute
Amore: Gott der Liebe und Freund des Merkur
Echo: eine Nymphe
Africano: Repräsentant des afrikanischen Erdteils
Asiatico: Repräsentant des asiatischen Erdteils
Americo: Repräsentant des amerikanischen Erdteils
Europeo: Repräsentant des europäischen Erdteils

Handlung

Amor bedauert sich selbst - sein Köcher mit den goldenen Pfeilen ist ihm abhanden gekommen. Sein Selbstwertgefühl ist auf dem Nullpunkt angelangt. Das Weinen und Lachen der Liebenden wurde von ihm dirigiert. Ohne seine Liebespfeile ist er machtlos. Was nutzt der Bogen, wenn man die Botschaft nicht mehr ins Ziel bringen kann? Der kleine Gott ist blind und hat als einzigen Besitz noch seine Flügel. Seine Glut werden Götter und Menschen in Zukunft verlachen.

Doch unter den Göttern hat Amor einen selbstlosen Freund. Es ist Merkur, der Bote des Zeus und der Gott der Kaufleute. Nachdem das Vorspiel verklungen ist, bietet der Hilfsbereite sich an, nach dem in Verlust geratenen Köcher zu suchen. Von Sphäre zu Sphäre, von Kreis zu Kreis, von Pol zu Pol eilt er, um im Fluge zu erforschen, wo das Wertstück geblieben sein könnte. Er bläst zuvor seine Trompete – doch hören wir, was er verkündet:

„Wenn jemand einen goldenen
Köcher gefunden hat,
ausgestattet mit Pfeilen,
die schicksalhafte Spitzen aus
Gold haben,
soll er ihn liebenswürdigerweise
zu Gott Amor
bringen.“

Zunächst besucht der Gott mit seinem Schützling die Wüsten und Küsten des Schwarzen Erdteils und trifft dort auf Africano. Der große Sohn des Jupiter wird belehrt, dass er am falschen Ort suche. Er selbst sei in Afrika wohl bekannt, aber der kleine Amor sei hier eine unbekannte Gottheit. Einen Köcher besitze hier jeder, aber die Pfeile haben keine goldenen Spitzen und trügen auch keine Namen wie Reinheit, Würde, Anmut und Schönheit.

Merkur sieht ein, dass er ohne nähere Information nicht weiterkommt. Er fragt den Kleinen, ob er sich erinnern kann, an welchem Ort er den Köcher mit den allmächtigen Pfeilen das letzte Mal
benutzt hat. Um ihm Mut zu machen, schmeichelt er ein bisschen, dass der Mutige zwar blind sei, trotzdem die Augen aber immer wach halte für die Stunden, wenn er das Feuer der Liebe entfacht.

Amor erklärt, dass er kürzlich mit einer Schar Nymphen an einer silbernen Quelle arglos gespielt habe. Wahrscheinlich haben diese ihm aus Hinterlist den Köcher mit den goldenen Pfeilen entwendet. Aber selbst wenn die Nymphen Verkleidungsspiele mit ihm vorgenommen haben, muss er doch wissen, wo er den Köcher abgelegt hat. Amor glaubt „Am Ufer der schmeichlerischen Quelle, an der es viele Blumen gibt, die sich durstig zum Bach neigen, um begierig zu trinken – dort verbergen sich seine Pfeile wie fliegende und gefährliche Schlangen unter den Rosen.“ Recht geschieht dem hochmütigen Kind. Allen barbarischen und wilden Schützen soll es so ergehen! Warum ist Merkur so wütend und seine Stimme so scharf? Er durchbohrt einen Wehrlosen! Amor schlägt vor, sich in die Hände der freundlichen Winde zu begeben, um das Rote Meer zu überqueren. Vielleicht kann man dort Auskunft über den Verbleib der verhängnisvollen Wurfgeschosse geben. Merkur bläst in die Trompete und stellt anschließend seine Frage im bekannten Wortlaut. Es antwortet Asiatico:

„Verlange nach Perlen oder Schätzen,
nach Balsam, Schminke, Düften!
Was du auch willst, wirst du finden
Aber fragst du nach Liebe,
wirst du nichts herausfinden,
welches den Namen Amors überschattet.“

Hier glaubt man, Liebe sei ein Märchen aus Griechenland, wo Verrückte ihre Wohnstatt haben. Die Fantasien eines Wachenden werden dort Liebe und Natur genannt. Amor habe in Asien einen schlechten Ruf. Er besitze Fesseln und Fackeln. Er sende Pfeile zum Herzen, weil es ihm gefällt, da er ein Gott ist, um zu quälen. Wälder gibt es hier in großem Ausmaß mit Hölzern, aus denen sich Pfeile schnitzen lassen. Aber von keinem einzigen Pfeil hat man je gehört, dass er außer Krieg und Tod den Seelen Anmut oder Pracht bringt.

Ob solcher Worte fühlt Amor sich gekränkt. Aus barbarischem Herzen kommen ungerechte und verächtliche Worte, aus den Äußerungen lieber Freunde dagegen spreche Großmut und Tugend. Nur einer großen Seele und einem Herzen, welches Edelmut hat, ist Amor bekannt.

Vielleicht sollte man sich dem öden Amerika zuwenden, welches weniger rau und grausam ist. Dort werden sie die Information bekommen, wo der unsterbliche Köcher versteckt wurde. Man nimmt wie üblich den Weg durch die Luft. Amor kündet von dem Rohmaterial seiner Pfeile. Unfruchtbares gewöhnliches Holz entzündet sich nicht an seiner Flamme. Nur eine Pflanze mit Duft entflammt sich wie ein edler Docht zu seiner glücklichen Hitze - nicht jeder Schmetterling wird ein Phönix.

Schließlich sind die beiden in Amerika angekommen, damit an einer unwirtlichen Küste die kündende Trompete vernommen werden kann. Überraschenderweise hat man hier tatsächlich eine blasse Ahnung, wer der Bestohlene ist. Von dem Sohn der Venus mit der Augenbinde, dem Bezwinger der Götter und Menschen, weiß man, dass er verhängnisvolle Pfeile aussendet. Die Triebfedern seines Handelns seien Wildheit, Grausamkeit, Hass und Zorn. Der Kleine ist erschüttert, wie schlecht man hierzulande von ihm denkt. Der Name Amors sei die Einladung zu sterben. Merkur will den Kleinen ein bisschen erziehen, damit er mit seinen Pfeilen in Zukunft etwas bedachtsamer umgeht. Er sieht doch, dass ein bitterer Ruhm ihm von diesem Himmel widerhallt. Kurz gesagt, es besteht keine Hoffnung, von Americano das Versteck der goldenen Pfeile zu erfahren. Es ist keine Zeit zu verschwenden. Man begibt sich zurück ins alte Europa, um dort die Gegenden zu durchstreifen. In seiner angestammten Heimat gibt es viele große Seelen, denen Amor immer willkommen ist.

Merkur kann es nicht lassen, dem Kleinen eine Standpauke zu halten. Hat Venus Erziehungsfehler begangen, ihn ständig gewähren zu lassen, um selbst von seiner Auswahl zu profitieren? Verletzungen sind Amors Prüfungen, Grausamkeit seine Trophäen. Die Liebenden beschweren sich im Verbund und keine Nymphe will ihn in ihrer Brust festhalten. Er bringt Leid und macht sich durch seinen Hochmut verhasst. Amor schwört Besserung, wenn es Merkur gelingt, den Verbleib seiner Waffen nebst Behälter auszukundschaften. Die Seelen sollen wieder in Ruhe leben und die Seufzer wieder normaler Atem werden. Europeo lädt den kleinen Gott ein, zurückzukommen. Voller Verehrung werden die bebenden Herzen ihn grüßen. Aber das Versteck seines goldenen Köchers kann auch er ihm nicht verraten. Amor verzweifelt: ohne Köcher mit den goldenen Pfeilen ist er seiner Macht beraubt und klinisch tot.

Doch völlig unerwartet meldet die Nymphe Echo sich zu Wort. Ihr Schicksal ist es, dass man immer nur die letzten beiden Silben eines Satzes verstehen kann. Die Göttin Hera hatte die Plaudertasche einst aus gegebenem Anlass verflucht. Der Verzweifelte will überhaupt nicht zuhören, wenn sie lediglich zu künden hat, dass er sterben werde. Wenn sie ihm tatsächlich etwas zu sagen habe, soll sie ihm die Schuldigen nennen, die den Frevel begingen, sich seiner Liebespfeile zu bemächtigen. War sie es etwa selbst, die seine Glückspfeile geraubt hat und mit tyrannischer Macht zurückhält?
Nein, Echo ist doch keine Diebin! Immerzu hört Amor sie den Namen: „Anna“ rufen. Wer um Himmels Willen ist Anna? Oder haben seine Ohren falsch gehört. Ist Anna etwa eine Nymphe oder der Name eines Halbgottes? Heißt eine Grazie so oder befindet sich die Person unter den Jägerinnen der Göttin Diana? Wo hält sie sich versteckt? Echo lässt als Antwort eine weitere Silbe vernehmen: „Arno“. Ist Arno Annas Freund oder meint die Nymphe „Anna vom Arno“ Arno ist doch der Fluss, der durch Florenz fließt, in dem die Familie der Medici residiert.

Asiatico und Europeo haben sich zugesellt. Sie sind in der Geschichte der europäischen Herrscherhäuser bewandert und kennen ihre Familienmitglieder.

Asiatico hat den richtigen Tipp:

„Die Reinheit eines so schönen Gesichtes
ist dieselbe, die Lilien formen.
Sie ist ein Widerschein des Himmels,
der sich schön in sich selbst spiegelt.“

Europeo kennt sich noch besser aus:

„Dieses schöne Gesicht hat solche Anmut,
dass es auch in seinem Schweigen spricht.
Es sagt jeder zu ihr: Gib mir dein Herz!“

Amors Gesicht hält sich auf. Nun weiß er, wer den Köcher mit den Pfeilen stibitzt hat:

“Oggi quest 'oggi
Oppunto è 'l bel giorno sereno
Che del ciel mediceo
Nel rico seno
Germogliò questo perla.“

Anna ist die charmante Diebin, die schöne Perle der Medici, welche heute Geburtstag hat.


Letzte Änderung am 12.8.2008
Beitrag von Engelbert Hellen